Gespräch zwischen Hans-Ulrich Obrist und Hans Peter Reuter
Teil 2
H-U O: Gab es da noch andere Heroen neben den genannten Künstlern, die Sie nachgemalt haben, aus der Kunstgeschichte…
H.P.R: Ja, gibt es, aber ich habe sie nicht alle nachgemalt! Es gibt anscheinend drei Arten der Auseinandersetzung, die nacheinander erfolgt sind: Kopieren, um mir Substanz anzueignen. Imitieren, um den Kopf frei zu bekommen, und als drittes gibt es eine große Gruppe von Malern, die ich eher platonisch liebe, die also eher um die Ecke herum in meine Malerei eingeflossen sind. Dazu gehören z.B. die Manieristen, Bronzino, Pontormo, Beccafumi, die Donauschule, Altdorfer, Huber, dann de La Tour, Vermeer, Runge, Friedrich, Ingres und überhaupt das ganze 19. Jahrhundert. Aber genauso fassungslos, wie vor den Bildern dieser Maler, stehe ich vor einem Malewitsch, weil ich mir bis heute das Phänomen nicht erklären kann, wie man einfach mit einem komischen Quadrat die ganze Welt (fast) aus den Angeln heben kann. Es ist für mich auch ein Phänomen, daß z.B. bei Mondrian schon der Rand einer Form, genauso bedeutungsvoll und vor allem ein körperlicher Genuß sein kann, wie das ganze Bild. Es ist ein elektrisierendes Erlebnis, sich bei ihm den Anstoß einer gelben Fläche an eine schwarze Fuge anzusehen. Was heißt ansehen?!, einzuverleiben!… Aber Sie sehen, ich schwimme irgendwie nur rum. Ich kriege immer nur Fetzen zu fassen… also wirklich: „Seltsam im Nebel zu wandern…“ (Hesse). Ich denke eigentlich immer den Menschen im Visier zu haben, male aber eigentlich nur, was ihn umgibt, oder umgeben könnte.
H-U O: Ihre Bilder scheinen illusionistisch zu sein, dann wieder ins fast rein Abstrakte zu gehen, natürlich auch da immer mit illusionistischen Elementen. Über allem steht aber immer diese latente oder manifeste Schwimmbadidee. Sie haben das vorher erklärt…
H.P.R: Also, den Vorgang, wie sich die besondere Prägung einer Person langsam in deren Bilder schleicht und sich dort, ohne daß sie es merkt, breit macht, stelle ich mir ungefähr so vor: Mein Leben als Mensch und als Maler ist jeweils ein Strom. Der Strom des Malers setzt später ein und muß daher die Entwicklungsstufen Kindheit und Jugend etwas schneller durchlaufen, um irgendwann mit meinem Lebensstrom als normaler Mensch erst parallel und dann vielleicht sogar vereint zu fließen. Dann gibt es noch den Strom der Welt, der Zeit in der ich lebe. In ihm sind die Angebote, die Möglichkeiten vorhanden, die ich unter anderem für meine Malerei nutzen kann. Wenn ich seelisch absolut souverän wäre, könnte ich mich locker hinsetzen und mir Angebote für meine Malerei aus dem Fluß der Welt angeln. Nehmen wir aber an, ich wäre durch meine Polio-Erkrankung und dem, als Therapie daran anschließenden, extrem häufigen Aufenthalt in Schwimmbädern – seelisch gesehen – geschädigt worden und hätte quasi ein Bein verloren, so daß meine Seele unsicher stehen würde und im Strom der Welt käme eine Krücke in Form eines (Sicherheit versprechenden) Quadratrasters vorbeigeschwommen, also eine Art von Seelen-Krücke… wenn mein Unterbewußtsein jetzt nicht saublöde ist, wird es sich die Krücke, von mir, dem Maler, angeln lassen und meiner Seele, als Ausgleich für das verloren gegangene Bein anbieten und für immer schenken. Malerei kann Wunden heilen und für vieles entschädigen.
Die Brücke könnte man natürlich auch anders schlagen: Was wie eine Fliese aussieht, ist ja auch eine Struktur, ein Raster, ein Ordnungssystem. Es ist sicher nur eine von vielen Methoden, die Welt in den Griff zu bekommen. Für mich scheint es jedoch die wichtigste zu sein.
Ich bin einerseits ein unglaublicher Chaot, komme aber mit den Folgen meiner Chaotik nicht besonders gut zurecht. Die Bilder sind im Grunde nicht mehr und nicht weniger als der biblische Satz: „Und er brachte Ordnung in das Chaos“. Das hört sich zwar ein bißchen göttlich an, aber leider lauert auf der Gegenseite Sisyphus. Dies ist wieder einer dieser Dualismen, bei denen ich mich fühle, wie eine Billardkugel zwischen den Banden. Einerseits, der Satz, der Gottes erste Tat bei der Erschaffung der Welt beschreibt, andererseits muß ich offensichtlich, wie Sisyphus, diese Raster- und Strukturen-Orgie immer und immer wieder von neuem beginnen, um mich dieser Welt zu versichern. Da sich die Vorgänge in den beiden Welten, in der einen, in der ich lebe und in der anderen, in der ich male, so ähnlich sind, müssen dies meine Bilder offensichtlich auch sein. Sie müssen die Illusion, die virtuelle Realität einer Welt erzeugen, die der Welt in der ich, aber auch der Betrachter meiner Bilder lebt, erstaunlich ähnelt.
Die normale Welt, die gibt es halt schon, die ist da. Also male ich mir eine neue, wo ich der kleine Gott bin, ohne den es nichts gibt und nichts entsteht. Also eine neue Gegen- oder Überwirklichkeit. Wenn der Begriff Surrealismus nicht so blöde besetzt wäre, dann könnte ich wirklich sagen, ich wäre Surrealist. Also ein Mann, der Überwirklichkeiten neu erfindet.
H-U O: Bei den Aquarellen habe ich vorher die Frage gestellt (man kann dies natürlich auch bei den Bildern tun), inwiefern es Sie interessieren würde, daß diese imaginären Räume eventuell gebaut werden könnten. Sind das Modelle, die möglicherweise in der Zukunft gebaut werden sollen? Sind es nichtrealisierbare Modelle, die deshalb gemalt werden, weil sie nicht realisierbar sind? Oder sind es bewußt imaginäre Modelle, die ihre eigene Wirklichkeit haben, völlig unabhängig von einer Realisierungsmöglichkeit oder nicht?
H.P.R: Modelle sind es im Grunde genommen schon. Also modellhafte Räume, aber nicht in dem Sinne, daß ich jemals daran gedacht hätte sie zu bauen. Da würde ja die Realität des Baues das Modellhafte zerstören. Modell bedeutet ja auch immer Vision, Vorschlag, Zukunft. Die Realisierung in einem Gebäude wäre ein nicht mehr variierbares Faktum, festgelegt, bestenfalls Gegenwart, sehr schnell Vergangenheit… Mauer und Raumteiler wären dann wirklich da. Mich interessiert aber mehr das Prinzip des Raumteilers, das Prinzip der Mauer und das Prinzip des Raumes. Ich könnte natürlich auch anstatt Prinzip das Wort Begriff benutzen. Ich erzeuge ja mit meinen Mauern und Räumen im Gehirn des Betrachters nicht nur ein Bild einer Mauer oder eines Raumes, das er problemlos in die Vielzahl von Bildern einreihen kann, die er von realen Räumen schon in seinem Kopf hat, sondern einen ganzen Wust von Gefühlen, die bestimmte Konstellationen von Mauern und Raum in ihrem Schlepptau haben. Ganz wie in dem Gedicht von Benn: „Ein Wort, ein Satz: aus Chiffren steigen, erkanntes Leben, jäher Sinn…“, geht es ja vor allem darum, was die Summe der Einzelheiten evoziert. Ein Lichtschacht, eine Überstrahlung, ein Pfeiler, eine Pfeilerreihe sind also meine Worte, meine Begriffe. Ihre Komposition, ihr Zusammenspiel ergibt die Raumkonstellation. Dies wäre dann ein Satz. Dieser Satz ergibt zusammen mit anderen Sätzen aus Farbe, Duktus und Materie eine Aussage und somit den Sinn des Bildes.
H-U O: Es gibt diesen Satz von Jean Paulhan: „Alles ist gesagt worden, aber die Worte ändern ihre Bedeutung und die Bedeutungen ändern die Worte.“
H.P.R: Wir kommen permanent auf Sachen, über die wir uns jeweils wirklich stundenlang unterhalten könnten. Die Idee der Veränderung im Gleichen fasziniert mich schon länger, da ich im Grunde, genaugenommen, eigentlich immer das Gleiche mache…
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