Fragen von Rainer Beck an Hans Peter Reuter zum Thema Kunst und Akademie, Nürnberg 1988
I. Vom Wert der Akademien
Frage 1: Die Frage, was „Kunst“ sei, gilt heute als ungeklärt. Dies setzt sowohl die Künstler für ihr Tun als auch die Akademien ihrer Lehrziele und Unterrichtsmethoden wegen unter Begründungszwang. Läßt sich unter diesen Umständen die Daseinsberechtigung der Akademien noch begründen?
Die Frage, was Kunst sei, wird hoffentlich immer ungeklärt bleiben. Denn der Begriff Kunst beinhaltet eigentlich auch die Suche nach der Kunst beziehungsweise die Suche nach der jeweils individuell richtigen Lösung. Wer glaubt, zu wissen, was Kunst ist, kann mit der Suche danach aufhören und wird sie somit nie finden. Für mich läßt sich die Daseinsberechtigung der Akademien nur dadurch begründen, daß man in ihnen ein Forschungsinstitut zur Kunst sieht, wobei sie notwendigerweise pluralistisch aufgebaut sein müssen, um den Studenten ein möglichst breites Spektrum anzubieten, wie sie ihre Suche oder ihren Weg zur Kunst gestalten wollen.
Frage 2: Bert Brecht hat 1930 in einem Aufsatz „Über die Notwendigkeit von Kunst in unserer Zeit“ die Bereitstellung öffentlicher Mittel für „bedeutende“ Kunst kritisiert, dem Hunger „unbedeutender“ Kinder gegenübergestellt und einen Nachweis des gesellschaftlichen „Gebrauchswerts“ von Kunst gefordert. Was halten Sie davon?
Ich halte davon nichts, weil Bert Brecht, den ich sonst sehr schätze, hier Äpfel mit Birnen vergleicht. Das Geld, das bei der Nichtförderung von bedeutender Kunst eingespart werden würde, käme garantiert keinen hungernden Kindern zugute. Außerdem schließt das eine das andere nicht aus, und in letzter Konsequenz würde der Satz bedeuten, daß so lange keinerlei kulturelle Aktivitäten stattfinden dürften, bis niemand auf der Welt mehr hungert. (Da wäre mir die Umleitung von Rüstungsgeldern in sinnvolle Hilfsprogramme schon lieber.)
Frage 3: Den Kunsthochschulen wird vorgeworfen, sie erzeugten ein ständig wachsendes Proletariat an freien Künstlern und arbeitslosen Kunsterziehern. Können Sie in einem solchen Proletariat einen Gewinn für die Gesellschaft entdecken?
Ein Künstler kann höchstens als Kunsterzieher arbeitslos sein. Als Künstler kann er immer arbeiten, selbst wenn die soziale Lage noch so schlecht ist. Da er keiner abhängigen Arbeit nachgeht, ist er Selbständiger und kann somit nie zum Teil eines Proletariats werden. Da unser Gesellschaftssystem inzwischen stark materialistisch ausgerichtet ist, kann es gar nicht genug Künstler geben, die sich nicht an dem festen System beteiligen und damit auch nicht integrierbar sind.
II. Struktur und Unterricht
Frage 4: Während der letzten Jahrzehnte haben sich die Methoden, Inhalte und Arbeitsbereiche der bildenden Kunst stark erweitert. Im Vergleich dazu wirken die Strukturen vieler Akademien wie archäologische Grabungsstätten des 19. Jahrhunderts. Müssen die Akademien umstrukturiert werden? Wie muß ein zeitgemäßes Lehrangebot aussehen? Was sind seine minimalen räumlichen, materiellen und personellen Voraussetzungen?
Die Strukturen der Akademien sind sicher offen genug. Die Grabungsstätten des 19. Jahrhunderts liegen, wenn, dann in den Köpfen der jeweiligen Professoren. Daher müssen auch nicht die Akademien umstrukturiert werden, sondern schon eher die Berufungspraxis. Wichtig wäre mehr Platz, um dem derzeitigen Trend der Vereinzelung entgegenzuwirken. Zur Zeit arbeitet fast jeder Student zu Hause, was meiner Ansicht nach dem Sinn der Akademie widerspricht, denn das meiste „lernt“ der Student von seinen Mitstudenten, nicht vom Professor, und allein ist er später noch lange genug. Bei den heutigen Bildformaten wären pro Student mindestens fünfzehn Quadratmeter nötig, das ergäbe bei einer Klassenstärke von 30 etwa 450 Quadratmeter.
Frage 5: Einige Akademien führen für alle Studenten verbindlich während der ersten Semester ein Basisstudium durch, andere lehnen ein solches als „akademischen Kindergarten“ ab. Wie sieht für Sie der ideale Aufbau eines akademischen Kunststudiums aus?
Die zugrundeliegende Idee für das Basisstudium finde ich gut. Aber nur, wenn die Grundklassen wie im Bauhaus von den besten Künstlern geleitet werden, die einigermaßen Gewähr dafür bieten, daß die Gefahr der Verschulung vermieden wird und nach einigen Jahren kein erstarrtes Rezeptstudium betrieben wird. Im Grundstudium sollten die Studenten einerseits gewisse Grundtechniken (ohne Kunstüberfrachtung!) kennenlernen, als auch verschiedene Möglichkeiten erfahren, welche Haltungen man zur Kunst einnehmen kann. Auf keinen Fall sollten Rezepte gelehrt werden, wie man „angeblich“ Kunst herstellen kann. Um mich über den Idealaufbau eines akademischen Kunststudiums auszulassen, fehlt mir hier der Platz. Wichtig scheint mir, eine klare eigene Meinung zu haben und auch klar Position zu beziehen, aber andererseits nicht zu zögern, beides bei vorliegenden Gründen in Frage zu stellen beziehungsweise konträre Ansichten anderer zu akzeptieren.
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