Reuters Räume, Reuters Sterne
Auf welcher Wellenlänge erreicht uns der Anruf? Wie heißt der Planet an unserm Ohr? Der Künstler erläutert einen Plan. Seine Stimme ist eindringlich, weil es ihn drängt, sein Anliegen deutlich zu machen. Er sieht es vor sich, er steckt schon mitten drin. Der Zuhörer möchte ihm folgen. Bedenken werden zerstreut, Einwände freundlich abgetan. Der Weg wird vorgezeichnet, nachgezogen. Details werden unaufgefordert bis ins Einzelne erklärt. Jede Zwischenfrage erhält die angemessene Antwort, von Ungeduld keine Spur. Vor dem Auge des Zuhörers wechseln die Bilder, indessen die Stimme, vorauseilend, ein weiteres Kapitel in der endlosen Geschichte malerischer Strategien eröffnet.
So führt uns Hans Peter Reuter durch seine imaginären unendlichen Räume. Er ist ein Meister des Zooms. Er zieht die größte Ferne dicht heran und überläßt uns im nächsten Augenblick einer unermeßlichen, schwindelerregenden Bodenlosigkeit. Die solide überlieferte Welt des science fiction könnte sich keinen besseren Interpreten wünschen. In Stanley Kubricks Film 2001 müßte man für Reuter auf der Raumstation ein gut verschlossenes Atelier einrichten und ihm ohne Bedenken bestimmte Untersuchungen zur Farbe Blau und zur Perspektive des Würfels anvertrauen. Der Künstler könnte sich auch ohne weiteres in der Werkstatt eines irdischen Uhrmachers niederlassen, den Pendelschlag alter Chronometer und die Unruhe so manchen Werks überprüfen und regulieren. Man sieht ihn vielleicht auch am hellichten Tag in den luftigen Körben schweben, die heute von leichten ausschwenkbaren Kränen an den Außenseiten der spiegelglatten Hochhausfassaden heruntergelassen werden, damit der Fensterputzer die Rasterflächen der Gläser reinigen kann. Hier findet der Maler Flächen, dort entdeckt er Räume. Einmal arbeitet er an den Innenwänden, ein anderes Mal an den Außenwänden unserer schönen, nicht mehr ganz neuen Welt. Die digitalen Uhren sind jetzt geräuschlos, ohne daß sie die Zeit vergessen lassen. Auch sie gehört zum Operationsfeld des Künstlers.
Beim Betreten der Schalterhalle einer mittelgroßen Bank, die von Reuter vor Jahr und Tag dem Geschäftsboden entrückt und in die Sphären seiner blauen Himmelskörper versetzt worden war, fiel der erste Blick auf die disziplinierende Digitaluhr, die an Ort und Stelle vor der Wand unbeirrt ihre Zeitangabe verrichtete. Sie zeigte pünktlich Dienstag, 19. Nov. 17.59 an. Die Geschäftsstunden waren vorüber, die Tresen unbesetzt. Die blauen Würfel schwebten heran und hinweg nach einem unerfindlichen System. „Wie stehen die Sterne?“ Mit dieser bangen Frage würde sich Wallenstein an seinen Astrologen Seni wenden können. Das ungewohnte Ambiente in der leeren Bank, die Datumsangabe setzte auf einmal den künstlichen Kosmos in eine überraschende Bewegung. Raum und Zeit traten in Beziehung, und die kleinen und großen blauen Phantome simulierten ein Planetarium, in dem sich die Gestirne tiefdunkel im hellen Licht bewegten. Dem Zifferblatt der nüchternen Uhr war es offensichtlich zuzuschreiben, daß der Gedanke des Betrachters unbewußt vorauslief, in Richtung auf eine Zukunft, die noch buchstäblich Utopie ist. Im Panzerglas der Schalter war sie ebensowenig zu finden wie im kapitalen bankeigenen Philodendron.
Bald ist es dreißig Jahre her, daß Reuter die Erfahrungen seiner Ateliermalerei erstmals im großen Maßstab in einen realen Raum übertragen hatte. In der Kunsthalle Baden-Baden setzte eine Fläche gemalter Architektur die wirkliche fort. Mit den Mitteln der klassischen Zentralperspektive baute der Künstler eine Folge verfliester Räume auf, eine gemalte und mit Kunststoffkacheln ergänzte Kulisse von 70 Quadratmetern, seitlich begehbar, in der Tiefe nur zum Schein. Die Theatralik des Stadtbads von damals hat sich in ein bemustertes Firmament begeben, in dem sich Fix- und Wandelsterne nicht mehr voneinander unterscheiden lassen. Bildträger ist die Architektur jetzt selbst. Ihre realen begrenzenden Wände übernehmen die Rolle des Bildraums, in den zu hunderten oder tausenden die blauen Teilchen einbrechen oder, je nach Lesart, ausbrechen. Die Unterscheidung bleibt absichtlich offen. Sie kann nach beiden Richtungen gesehen und begriffen werden, und unheimlicherweise kehrt sich wie bei einer optischen Täuschung die wahrgenommene Bewegung immer wieder um. Sicherheiten sind nicht auszumachen.
Nur die Farbe Blau erweist sich als beständig. Ein blauer Himmel, eine blaue Tiefe. Die Utopie erscheint blau und die Blume der Romantik auch. Beim blauen Pigment von Yves Klein handelt es sich um eine nachprüfbare Substanz. Aber sein Flug-Sprung aus dem Fenster galt dem uralten Traum der Schwerelosigkeit. Reuter hat es ihm nicht nachgemacht. Sein Umgang mit der Farbe ist äußerst kontrolliert. Er mischt sie in 36 Stufen von Ultramarin, ordnet sie in Kategorien, nicht anders als seine Formmodule, die in vier Varianten und zwölf verschiedenen Größen gezeichneten Würfel. Tabellen werden angelegt, Schemata für die Typen der perspektivischen Verkantungen entwickelt. Alles hat seine Ordnung im Vorfeld der letztlich durchaus chaotisch anmutenden Austragung im großen Spielfeld der Wand. Nur die Lichtführung ist eine immer feste Größe in der Planung des Malers. Von Beginn an geht sie von links oben aus, nicht anders als bei Vermeer, sagt der Künstler. Licht- und Schattenfugen lassen dies leicht erkennen. Die Himmelskörper sind nicht selbstleuchtend, sondern belichtet. Der kosmische Ausflug findet in klassisch tradiertem Schuhwerk statt.
Barocke Lüftlmalerei, wie wir sie von bayerischen Kirchen und Wirtshäusern kennen, geht in Reuters Vorstellung mit den Animationen der Bildschirmschoner auf den Computern eine keinesfalls konfliktfreie Koalition ein. Er übernimmt die Steuerung der Elemente. Was in alten Sakralräumen möglich war, sollte auch in Banken, Konferenzsälen und Galerien gelingen. Der Maler demontiert den Maler. Die gekachelten Stadtbäder sind in lauter Teilen und Teilchen zertrümmert. Ihre Bausteine befinden sich in schwerelosem Zustand unterwegs. Jede neue Installation muß sich auf einen definierten Raum und seine Ausstattung einlassen und sie zugleich ignorieren. Der Parcel-Service liefert die errechneten blauen Einheiten, als handele es sich um das bekannte Produkt quadratisch, praktisch, gut. An die Wand gebracht, trägt der Künstler das Risiko, zwischen Design und Dekoration zu scheitern. Der blaue Steinschlag kann ins Auge gehen. Aber das durch viele streitbare Anlässe erprobte Kämpferherz kennt das formale und ikonographische Material der gängigen Medien. Sie wecken seinen Widerspruch, ihnen mit dem gelernten künstlerischen Handwerk zu begegnen. Leinwand, geschnittene Styrodurplatten und Decopappen sind die Bildträger für den praktizierenden Maler. Mit einer immer mehr gefestigten Übung hat er den Illusionsraum der rechteckigen Bildfläche verlassen und sein Inventar auf Weltraumreisen geschickt.
Reuters Reisen führen auf alte mythische Bilder zurück, an denen die gegenwärtige Kunst in vielen ihrer Bemühungen ebenso kritischen Einwand wie Bestärkung erfahren kann. Die Geschichte des Sisyphus war schon immer in der Nähe der Künstler angesiedelt. Albert Camus hat daraus seinen berühmten Essay über das Absurde entwickelt. Vielleicht bringt einer der Gäste in Reuters blau gewürfeltem Kaisersaal im Präsidentenpalais des Berliner Reichstags einmal die Rede darauf. Das Wälzen des Steins verdiente ein wenig Reflexion. Oder erinnert sich an dieser Stelle jemand an den rätselhaften Polyeder von Dürers Melancholie? Die Resignation ist Reuters Sache nicht. Auf die Frage nach dem Stand der Sterne wäre sein Antwort lapidar: „Die Sterne stehen gut.“ Und auch die schwesterlichen schwäbischen Nymphen des Wassers und der Wiese erheben von ihrem vertrauten Lager in der Tübinger Kunsthalle gegen diese Feststellung keine Einwände.
Klaus Gallwitz, Karlsruhe 2002
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