Hans Peter Reuter hat sich in den nunmehr vierzig Jahren seines künstlerischen Schaffens einigen wenigen Grundprinzipien verschrieben. In dieser selbst gewählten strukturellen Beschränkung liegt das Geheimnis von Tiefe, Variationsreichtum und, letztlich, Unendlichkeit in seinen Werken. Diese sind darin den Kompositionen der großen Musiker des Barock und der Klassik vergleichbar, deren emotionale Suggestivkraft und überraschender Zauber sich gleichfalls innerhalb einer strengen Struktur entwickeln.
Reuters Oeuvre bezieht sein Spannungspotential aus der Widersprüchlichkeit, mit der es zwischen Stilelementen verschiedener Kunstrichtungen oszilliert, gleichsam ihre Möglichkeiten für die eigenen Zwecke auslotet, ohne sich einer von ihnen zu verschreiben. Der Künstler, unergründlich in seinem künstlerischen Schöpfungswillen, entzieht sich stets aufs Neue der kunsthistorischen Etikettierung und sieht sich selbst, nicht ohne Genugtuung, „zwischen allen Stühlen“ sitzen. Sein Werk trägt Züge der Klassik, da es auf klare Ordnung und Harmonie gegründet ist. Es besitzt Charakteristika des Barock aufgrund des unmerklichen Übergangs realer in rein illusionistische Räume und aufgrund der subtilen Dramaturgie des Lichts. Es mutet zuweilen romantisch an, weil es Verbindung zur Unendlichkeit und dem Erhabenen aufzunehmen scheint. Wie in Kasimir Malewitschs Konstruktivismus oder in der Zen-Malerei setzt es das (beinahe) Unmögliche in die Realität um. Manch ein Werk könnte man ferner dem Realismus zuordnen, weil es die gemalten Räume auch in der Wirklichkeit geben könnte. Mehr noch trägt Reuters Arbeit aber virtuellen Charakter, denn bei jeder seiner Bildfindungen handelt es sich letztlich um eine durchgespielte räumliche Möglichkeit, ja eine Art von Überwirklichkeit. Und last but not least ist in den neuesten, objekthaften Arbeiten eine Verwandtschaft zur Konkreten Kunst augenfällig.
Immer wieder überrascht Reuter mit völlig Neuem, typischerweise wenn er bestimmte Bildprinzipien in ganzen Serien durchgespielt und „ausgereizt“ hat. Dann kann es geschehen, dass er die bisherigen Spielregeln regelrecht über den Haufen wirft, um die Bildparameter völlig neu aufzustellen – mit überraschend neuartigen Ergebnissen. Auf diese kommt es Reuter stets an, nicht auf die Zelebration stereotyper Regeln und Prinzipien. In der Auseinandersetzung mit dem großen Puristen Piet Mondrian in einer Bildserie der 80er Jahre hat er gar die blaue Monochromie durch die Hinzunahme von Rot und Gelb für eine bestimmte Zeit durchbrochen - dies lediglich als Anmerkung zum „blauen Reuter“ und ähnlichen Etikettierungen, die konstitutive Elemente von Reuters Arbeiten aufgreifen und doch sämtlich an deren Kern vorbeigehen. Die Einzigartigkeit und Großartigkeit von Reuters Kunst liegt zu einem erheblichen Teil in der Konsequenz, mit der er bestimmte Bildparameter in systematischer Wiederholung anwendet. Doch Reuter, der stets die neue Herausforderung sucht, ist wohl der Letzte, der dabei der Faszination der eigenen Methode erläge.
Reuters Bestreben ist es, das Chaos zu begreifen, indem er es strukturiert und ordnet. In Entsprechung zur Fraktalen Geometrie arbeitet er unablässig daran, aus den nicht vorhersehbaren, scheinbar unregelmäßigen Formen des Daseins universell gültige Strukturen abzuleiten. Ordnung und Schönheit sind für ihn die unerlässlichen Voraussetzungen für eine Kunst, die zum Resonanzboden für Lebensfreude in ihrer reinsten Form wird. Hierin ist er ein Seelenverwandter Charles Baudelaires, dessen berühmte Zeile aus dem Gedicht „L´invitation au voyage“ („Einladung zur Reise“) er gerne zitiert: „Là, tout n‘est qu‘ordre et beauté / Luxe, calme et volupté“ (Alles dort ist Schönheit und Genuss, Gleichmaß, Beschaulichkeit und Überfluss“).
Was sich genau in einer Kinderseele abspielt, ist im Nachhinein schwer zu definieren. Gewiss ist, dass das Schweben in Todesgefahr durch eine Polioerkrankung im Alter von 4 Jahren prägende Spuren hinterlassen und Reuters Wahrnehmung sowie sein Weltverständnis intensiv geschärft hat. Genauso wie ihm damals ein durch seine Eltern auferlegtes strenges Programm körperlicher Ertüchtigung (der tägliche Aufenthalt im Schwimmbad wird häufig mit seinen Kachelbildern in Zusammenhang gebracht) im Kampf gegen die Krankheit half, ist ihm später die Kunst zur unerlässlichen seelischen Stütze geworden. Ohne Bilder kann er nicht leben, denn sie stehen für seine Sehnsüchte, wie der Baudelairsche Vers sie beschreibt. In ihnen ist Geistiges in Materie umgesetzt, und sie sind das für ihn einzig Dauerhafte auf dem schmalen existentiellen Grat unseres Lebens. In den Bildern verfestigen sich nicht nur Licht, Raum, Struktur, Farbe, sondern auch Schönheit und Harmonie. Die große Energie, man kann es auch Liebe und Hingabe nennen, die der Künstler in die Bilder fließen lässt, ist in deren starker Präsenz und großer Strahlkraft spürbar. Dabei versteht sich Reuter nicht als Zauberer oder Mystiker. Er will immer klar offenlegen, mit welchen Vorgaben er arbeitet. „Ob sich ein Wunder ergibt, liegt nicht bei mir. Ich verfüge über Leinwand, Farbe und eine Organisationsstruktur. Alles andere entsteht im Kopf des Betrachters.“