Chaos und Ordnung
A. Ehrmann-Schindlbeck
Kunst und Kult
Christian Demand
TEXTE
Texte über Reuter
Reuters Raster
Götz Adriani
Die Zeichnungen
Klaus Honnef
Die Aquarelle
Eduard Beaucamp
Konkrete Illusion
Lucius Grisebach
Reuters Räume,
Reuters Sterne
Klaus Gallwitz
Chaos und Ordnung
Teil 3

Bis zu zehntausend Quadrate schließen sich zu amorphen Organisationen zusammen, die den Bildkörper ergeben und teilweise an Korallenriffe oder auch an Kristallgitter erinnern. Das Quadrat als mathematisch eindeutige Form und Symbol für Ordnung und Rationalität wird in ein amorphes Chaos geworfen, um einen neuartigen Körper zu bilden, der irgendwo zwischen Ordnung und Unordnung angesiedelt ist. Während diese neuen Arbeiten anfänglich noch in den Grenzen des rechteckigen Bildformates geblieben sind, wuchern sie inzwischen in alle Richtungen. Nachdem Reuter früher Ordnung ins Chaos gebracht hatte, scheint er jetzt Chaos in die Ordnung zu bringen. In gewisser Weise schließt sich hier der Kreis mit ganz frühen Arbeiten, die biomorphe Gebilde zum Gegenstand hatten. Wurden diese urtümlich anmutenden Wesen ehedem aus einer chaotischen Welt durch das ordnende Prinzip der Architektur zurückgedrängt und schließlich ganz aus den Bildern verbannt, dringt heute in anderer Form – und nun als bewusstes Strukturprinzip - das unkontrollierbare Moment des Chaos wieder zutage.

Bereits Novalis und die deutsche Frühromantik hatten das Newtonsche Modell einer universellen Ordnung in Frage gestellt. Damit sind sie ein gedankliches Fundament für die Chaostheorie einerseits und die Bildwelt Hans Peter Reuters andereseits. Als einzige Antwort auf eine als chaotisch und unvorhersehbar wahrgenommene Welt sahen die Romantiker Poesie und Kunst, die mit ihren Ordnungsprinzipien einen Widerschein der als „Goldenes Zeitalter“ beschworenen Harmonie und Einheit ermöglichen. Die berühmte „Blaue Blume der Romantik“, die von  Novalis als Symbol der Transzendenz vom Chaos zur sublimen Ordnung beschworen wird, beherrscht auch Reuters Bildwelt.
Die Machart der so genannten „Wuschelbilder“ aus kleinen Splittern und der „Kristallbilder“ aus Quadraten ist gegenüber derjenigen der Bildserien vorangegangener Jahrzehnte völlig neu. Reuter entwickelte sie aus Materialresten, wie sie bei seinen Rauminstallationen abfallen. Nicht zufällig heißt eine dieser Arbeiten „Was von den Sternen übrig bleibt…“, denn sie besteht aus den Abfällen der Installation „Kaiserblau“ aus dem Jahr 2000 im Berliner Reichstagspräsidentenpalais. Mit einem Mal war dem Künstler bewusst geworden, dass die hochdifferenzierten Farbabstufungen, die er in den Partituren zu seinen Bildern errechnet, durch das Unter- und Übereinander des Materials und somit durch natürliche Licht- und Schatteneffekte erreicht werden können. Um die gewünschten Wirkungen zu erzielen, müssen auch hier aufwändige Arbeitsprozesse durchlaufen werden. Dazu gehören das tagelange Aufkleben der Kleinteile aus Pappe und das außerordentlich sorgfältige Besprühen mit Farbe, bei dem kein noch so kleiner versteckter Winkel frei bleiben darf. Meist wird das fertige Kristallbild in einen vitrinenähnlichen Kasten gebracht, der seine Objekthaftigkeit unterstreicht. Sein scheinbar schwereloses Schweben im Raum und die Plastizität, die Schatten wirft, beflügeln wiederum auf poetische Weise die gedankliche Verbindung mit Begriffen wie Blumen, Wolken, Inseln, Kristallen und Meteoriten, die wie Boten einer anderen Welt sind.

Der künstlerische Weg, den Hans Peter Reuter seit den 60er Jahren genommen hat, weist ihn als einen Künstler von ungebrochener Innovationskraft aus. Dabei ist er einem Zwang zur Neuheit ebensowenig erlegen, wie den Strukturprinzipien, die seiner Arbeit zugrunde liegen. Vielmehr führt seine konsequente Verfolgung dieser Prinzipien zu einer Transformation der Elemente Licht, Raum, Struktur und Farbe in Bildschöpfungen von unerschöpflichem Formenreichtum und virtueller Unendlichkeit. Innovation ist somit bei Reuter eine natürliche Resultante seiner Dynamik und Lebendigkeit einerseits und seiner Konsequenz und Beharrlichkeit andererseits. Wer wie er mit nicht nachlassender schöpferischer Neugier den Dingen auf den Grund geht, dem offenbart sich eine Dimension des Seins, die weit mehr ist als die Summe seiner Elemente.

Die Tuttlinger Ausstellung unterstreicht dies einmal mehr, und zwar umso deutlicher, als die hier vorgestellten Arbeiten einen völligen Neuanfang im Werk Hans Peter Reuters darstellen. Der planvolle Algorithmus der Bildpartitur weicht in den Kristall- und Wuschelbildern der Charakteristik homomorpher Materialteilchen, die Deduktion des Bildes aus abstrakten Prinzipien verkehrt sich in den induktiven Aufbau desselben aus konkreten Grundbausteinen, die Ordnung der Schöpfung gerät zur Schöpfung neuer Ordnung. Diese neuesten Werkreihen markieren nichts weniger als einen Paradigmenwechsel im Werk Hans Peter Reuters, dessen  jahrelange Expertise im Umgang mit gewissen Konstanten die ihm eigene Souveränität hervorbringt, radikal neuen Eingebungen zu folgen und sich doch stets treu zu bleiben.

Tuttlingen, im August 2010
Anna-Maria Ehrmann-Schindlbeck




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