Chaos und Ordnung
A. Ehrmann-Schindlbeck
Kunst und Kult
Christian Demand
TEXTE
Texte über Reuter
Reuters Raster
Götz Adriani
Die Zeichnungen
Klaus Honnef
Die Aquarelle
Eduard Beaucamp
Konkrete Illusion
Lucius Grisebach
Reuters Räume,
Reuters Sterne
Klaus Gallwitz
ROTTWEILER ERSCHEINUNG
Bemerkungen zu einer ‚ephemeren’ Arbeit Hans Peter Reuters
Teil 3


Vor dem Hintergrund solch komplizierter Wahrheitsbewandtnis im Kontext der Frage nach der Möglichkeit und Gültigkeit der Bilder entfaltet sich die Rationalität und das Wirklichkeitsinteresse des Legendarischen, dessen Erzählungen gleichsam Bildgeschichten entwickeln, aus denen der authentische Ursprung der Bilder sich erklärt: als Kopie, als wunderbarer Abdruck nämlich. Das kann das Antlitz Christi im Schweißtuch (sudarium) der Veronika sein (die nicht umsonst so heißt) oder jenes Mandylium König Abgars von Edessa, der beim Anblick dieses auf ähnliche Weise entstandenen Abdrucks geheilt wurde und woraus später, in Konstantinopel, das Reichspalladium wurde, von dem es auch einen Ziegelabdruck (Keramiopn) gab, oder das in einem Brunnen (= Spiegel?) aufgefundene Christusbild von Kamuliana, oder schließlich das Ganzkörperbild auf dem Leichentuch (sindone) des Josef von Arimathäa, auf welches das sog. Turiner Grabtuch zurückgehen soll. Das Bild wird, wie diese Beispiele veranschaulichen – gedanklich und geschichtlich, wenn man so sagen darf – zurückgeführt auf eine Intervention Christi bzw. eine Berührung mit diesem selbst. Das heißt, es wird auf eine wunderbar gedachte und interpretierte Weise zum Wahrheitsphänomen dadurch, dass seine Stofflichkeit – seine Materie – zur Trägersubstanz des Immateriellen wird bzw. zur Projektionsfläche und zum Projektionsmedium des Übernatürlichen. In gewisser Weise kann man sagen, dass der rätselhafte – ungeachtet ihrer für uns wunderhaften Züge und Ausschmückungen – erzählerisch-rational durch die Legende entschlüsselte Charakter dieser Objekte (Bilder), die ihrerseits über Jahrhunderte zu typenbildenden Kopiervorlagen wurden (im Bereich der Orthodoxie mit ihren Ikonen übrigens bis heute) und die Paradoxie inkarnatorischer Repräsentanz und Präsenz des Göttlichen miteinander auch so etwas wie den Quellpunkt theologischer Ästhetik überhaupt markieren, der in der Selbsttranszendenz des Bildes kulminiert. Erst oder nur – um es reprotechnisch auszudrücken – als ‚Originalabzug’ wird das Christusbild als Bild legitim und bedeutend – und eigentlich gibt es nur eines, aus dessen unendlicher Iteration alle übrigen hervorzugehen haben; ein Vorgang, in dem sich gleichsam das Erstwunder seiner Entstehung auf wiederum wunderbare Weise fortsetzt.

Mit anderen Worten: Die Echtheit eines solchen Bildes besteht eben darin, dass es etwas Besonderes ist, dass es mehr ist, als ein Bild. Merkwürdig genug, dass in solchem ‚Überschuss’, in dem ansonsten ja gerade die Gefährlichkeit von Bildern, nämlich ihr Schein in Erscheinung tritt, nun auch ihr Gewinn liegen soll. Der Künstler firmiert dabei – wenn nicht schließlich gar Christus selbst zum Maler avanciert – praktisch als eine Art Lizenznehmer; seine Produktion ist Reproduktion bis ins Detail, aber die Formel seines Produkts kennt er nicht. Übrigens treten dabei auch Züge einer Symbolik in Erscheinung, durch die die ‚Materialität’ des Bildes in Parallele zum Geheimnis (mysterion/sacramentum) der Eucharistie gebracht und darin gehalten wird und weshalb es auch zum Gegenstand der Andacht und Verehrung zu werden vermag, ganz wie das ‚Allerheiligste’ selbst: dann wird gleichsam sein Erscheinen, seine feierliche Einholung in Prozession selbst zur Epiphanie oder zur Ankunft, zum adventus Christi. Denn, nicht zu vergessen, das Bild entstand nicht von Menschenhand, sondern gleichsam durch Sekrete der Menschennatur Christi, die in ihm in gleicher Weise gegenwärtig gesetzt sind und bleiben, wie Fleisch und Blut Christi in den eucharistischen Gaben, zwar als Geheimnis (sacramentum), aber eben nicht bloß gedacht, sondern real präsent.

Im übrigen enthält das soeben gebrauchte Wort Andacht auch das Wort Denken. Was Gegenstand der Andacht wird, erscheint hier unverlierbar denkwürdig. Mag es manchmal auch bedenklich sein, so bleibt es doch nichtsdestoweniger bedenkenswert. Bedenkenswert und also denkbar, wenn auch wohl nicht erdenklich. So, wie alle Wahrnehmung, hat nämlich auch die Andacht einen ihr ersichtlich werdenden Gegenstand, aber einen, den sie nicht selbst hervorbringt. Der Sehsinn ist zwar der Realitätssinn schlechthin, auch wenn der Glaube aus dem Hören kommt. Aber man spricht eben deshalb von diesem Sehorgan auch in der Weise, dass man an die ‚Augen des Geistes’ denkt und an deren Schauen und Erschauen. Und nicht nur im visionären Kontext, aber da auch, ist von der spezifischen Sehkraft der ‚Augen des Glaubens’ die Rede.

Von solcher Sehkraft zeugen Erscheinungen. Man spricht auch von Schauungen oder von Visionen. In einer Kreuzeserscheinung/vision hat der hl. Paulus seine Bekehrung erfahren, wurde Saul zum Paul. In einer Kreuzesvision erfuhr Kaiser Konstantin vor der Schlacht an der Milvischen Brücke seine Siegesgewissheit: in hoc signo vinces. Man könnte noch viele Beispiele anführen. Vision ist, wie bemerkt, ein anderes Wort für Erscheinung; genauerhin bezeichnet es die erschauende Seite in einem Begegnungsgeschehen: das Erschauen und das Ersichtlichwerden. Visionen sind – so gesehen – wirklichkeitsrelevant und wirklich interessant. Es geht nicht um Einbildung, sondern um Sicht. Vielleicht um eine andere, womöglich eine weitere oder bessere, aber immerhin um Sicht.

Auch Bilder sind Erscheinungen, und sie zu schaffen und zu ‚lesen’ erfordert durchaus visionäre Energie und Kompetenz. Ohne solche Energie und Kompetenz – Fassungskraft nennt man die – kommt sozusagen nichts in Sicht, und auf alle Fälle gibt es keinerlei Horizonterweiterung. Das mag schon im physikalisch-physiologischen Sinn so sein. Erst recht aber gilt es im Blick auf die Wahrnehmung geistiger Wirklichkeit. Denn immer denken wir schauend, in und mit Bildern oder – mit anderen Worten: mit Erscheinungen. Sie sind gleichsam die Reizvokabeln für alle synaptischen Impulse, und aus ihnen bildet sich alles Synoptische, alles Sehen von bzw. in Zusammenhängen. Aber solche Erscheinungen müssen kommen. Sie begegnen. Manche sind einmalig, unwiederholbar; andere nicht.


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Rottweiler Erscheinung
Michael Kessler