Chaos und Ordnung
A. Ehrmann-Schindlbeck
Kunst und Kult
Christian Demand
TEXTE
Texte über Reuter
Reuters Raster
Götz Adriani
Die Zeichnungen
Klaus Honnef
Die Aquarelle
Eduard Beaucamp
Konkrete Illusion
Lucius Grisebach
Reuters Räume,
Reuters Sterne
Klaus Gallwitz
Chaos und Ordnung
Teil 2

Hans Peter Reuter ist ein Grenzgänger. Seine Arbeit muss inhaltlich wie handwerklich an die Grenzen gehen. „Arbeit, die leicht ist, kann ich nicht als Kunst betrachten“, so sein Diktum. Es gibt Bilder, an denen er etwa acht Monate lang jeweils zehn Stunden am Tag gearbeitet hat. Sobald eines fertig ist, taucht erneut die Sehnsucht nach etwas auf, das noch besser ist, indem es ein anderes Prinzip verfolgt. Ein neuer Gipfel muss bezwungen, eine neue Hürde überwunden werden. Betrachtet man Reuters Bildwelt näher, entfaltet sich ein Kosmos von ungeheuerer Vielfalt und Differenzierung, denn jedes Bild ist wieder eine Welt für sich. Neuerungen sind beileibe kein Zwang für Reuter, sie kommen ganz automatisch. Sie ergeben sich auf subtile Weise von Bild zu Bild innerhalb der größeren Serien, und sie vollziehen sich in plötzlichen Sprüngen, in denen sich eine völlig neue Idee Bahn bricht. Beispielsweise hatte er für die Serie der scheinräumlichen Würfelprojektionen errechnet, dass es bei einer Folge von unterschiedlichen Drehbewegungen und Winkelverschiebungen 486 deutlich unterscheidbare Versionen geben müsse. Nach etwa 80 Versionen beendete er die Serie. „Ich hätte vor mir selbst eine Gänsehaut bekommen, wenn ich im Dienste der puren Idee alle geschaffen hätte. Insofern bin ich vielleicht ein barocker Konstruktivist.“

Welche schöpferische Disziplin Reuters Kunst dennoch erfordert, lässt ein Blick auf den Schaffensprozess erahnen. Sieht man von den neuesten Serien der Wuschel- und Kristallbilder ab, gibt es in der Bildherstellung zwei Phasen: die erste liegt im Erstellen einer sogenannten Bildpartitur. In ihr legt Reuter nicht nur den Bildaufbau, sondern auch den chromatischen Plan fest. „Da die Farbe beim Malvorgang durchgängig blauschwarz ist und ihre endgültigen Töne, wie ein Polaroidfoto, erst nach einiger Zeit entwickelt, bin ich gezwungen, das ganze Bild vorher im Kopf zu digitalisieren, d. h. alle Farbtöne in Zahlen zu übersetzen.“ Insofern betrachtet er sich in der zweiten Phase, die den eigentlichen Malvorgang umfasst, als sein „eigener Erfüllungsgehilfe“.

In den Arbeiten der 70er Jahre lässt Reuter durch verblüffend illusionistisch gemalte Kachelwände und ein zentralperspektivisch konstruiertes Fugenraster Raum im Bild entstehen. Mit subtiler Regie sind diese fensterlosen Räume in ein surreales Licht getaucht, das sie für die Augen des Betrachters so anziehend und irritierend macht. Mit einem solchen Kachelraum, der in seiner Wirkung sehr viel suggestiver ist als ein realer Raum, sorgte Reuter im Jahr 1977 auf der documenta 6 in Kassel für großes Aufsehen.

Der Aufenthalt des Künstlers in der Villa Massimo in Rom zu Beginn der 80er Jahre führte ihn zu Bildern einer ganz anderen Blaustufe. Das südliche Licht und das Empfinden, Arkadien nahe zu sein, inspirierte ihn zu hauchzart getönten Bildern von großer Lichtfülle und ephemerer Leichtigkeit.

Wieder zurück in Deutschland, entfernte sich Reuter wieder von der mediterranen Luftigkeit der Rom-Bilder. Auf der Suche nach dem idealen Blau gelangt er schließlich zum Ultramarin, das er seither ausschließlich verwendet. Dieses ist durch seinen hohen Rotanteil eine hochenergetische und sehr substantielle Farbe, der ein angenehmer Samteffekt eigen ist. Dadurch fesselt es den Blick und regt zur Kontemplation an. Mit dieser Farbe entstehen suggestive Raumbilder, die aufgrund ihrer geheimnisvollen Leuchtkraft trotz realistischer Malweise in hohem Maße virtuell wirken.

In den neunziger Jahren folgen Bilder und Installationen mit gerasterten Würfeln in perspektivischer Ansicht, die - auf die weiße Fläche aufgebracht - zu schweben scheinen und den Raum optisch ins Unendliche öffnen.

Auch die neueren Streifenbilder feiern die Entgrenzung des Raumes. Die Gestaltung der Fluchtlinien, die subtile Dramaturgie des Lichts und die Unendlichkeit vortäuschenden Spiegelungen schaffen fantastische Räume, die greifbar scheinen und doch nicht von dieser Welt sind. In diesen Bildern, von denen eines treffend den Titel „APOTHEOSE“ trägt, ist die Suggestivkraft von Reuters bildnerischen Mitteln vollkommen auf die Spitze getrieben. Die Menschenleere lässt einen Sog entstehen, der den Betrachter Momente  glücklichen Entrücktseins erleben lässt.

Reuters Experimentierfreude hat im Laufe der letzten Jahre stetig zugenommen. Die neuesten Arbeiten, die den größeren Teil der Tuttlinger Ausstellung ausmachen, unterscheiden sich fundamental von den früheren Bildern, basieren aber dennoch auf den Konstanten Quadrat, Blau und Raum. Sie sind keine illusionistischen Raumbilder mehr, sondern bildähnliche Plastiken, die in ihren tiefen Kastenrahmen zu schweben scheinen.


nach oben                                                                                                     Weiterlesen in Teil 3 --->



Rottweiler Erscheinung
Michael Kessler