TEXTE
Texte von Reuter
Zu meinen Bildern (1971)
Documenta-Raumobjekt (1977)
Zum Studium der Kunst (1990)
Zum Quadrat (1990)
Licht (1994)
Bilder im Museum (1995)
Von Hölderlin zu
Malewitsch (2004)
RAUMSTATIONEN I – IV


Die einzelnen RAUMSTATIONEN sind eine Abfolge von jeweils eigenständigen und voneinander unabhängigen Kunstwerken in Form von Installationen der Arbeit SCHWEBENDES BLAU 1/2/4 (2001, Ultramarin/Fiberglas, 150x115x115 cm ) in unterschiedlichen Räumen. Das Objekt ist ein Ellipsoid aus Epoxydharz, das mit einer ultramarinen Rasterstruktur bemalt ist. In ihrer Gesamtheit stellen sie eine künstlerische Versuchsreihe dar, die sich mit der Interaktion von Körper und Raum beschäftigt.

Das Grundkonzept der jeweiligen Versuchsanordnung ist denkbar einfach: Es gibt eine Konstante und eine Variable, d. h., ein Parameter bleibt gleich, der andere verändert sich.Dadurch wird ein an sich autonomes Kunstwerk in die unterschiedlichsten Raumkonstellationen integriert. Spannend ist, zu beobachten, auf welche Weise und mit welcher Intensität sich die Partner gegenseitig beeinflussen.
Wenn es nur um dasselbe Kunstobjekt und verschiedene Ausstellungsräume ginge, das Kunstwerk also in seinem ureigensten Umfeld, sei es in einem zeitgenössischen White Cube, sei es in einer Kunsthalle aus der Zeit des Jugendstils, auf die unterschiedlichste Weise präsentiert oder inszeniert werden würde, so wäre dies sicher nichts Besonderes, sondern eher ein im Kunstumfeld alltäglicher Vorgang. Interessant wird es jedoch, wenn der Raum selbst ein Kunstwerk ist, der sakrale Kontext eine Rolle spielt und darüber hinaus die unterschiedlichsten Epochen und Stile aufeinander treffen.

Es muß also ein starker, mit Emotionen aufgeladener Raum sein, der als Partner für das Kunstobjekt in Frage komm. Dadurch wird die etwas simple Anordnung: Konstante (jedes Mal dasselbe Kunstobjekt) trifft auf Variable (jedes Mal ein anderer Raum), deutlich vielschichtiger. Denn im Gegensatz zum normalen Präsentations-Umfeld (Museum, Kunsthalle, Galerie), in dem der Focus direkt auf das Kunstwerk gerichtet ist und dieses somit immer es selbst und damit autonom bleibt, ordnet es sich hier in ein größeres, übergreifendes Gefüge ein. Es übernimmt zusätzliche Aufgaben, wird interaktiv und verändert damit das eigene Sein. Aber auch der Raum, in dem das Kunstwerk schwebt, verändert sich nachhaltig. Er ist nicht mehr der, der er vorher war. Beide bilden ein neues Kunstwerk auf Zeit.

Daß dies nicht immer glatt und harmonisch abgeht, habe ich schon bei PIEROS GEHEIMNIS (2006) im Vergleich zu dem darauf folgenden ROTTWEILER BLAU (2007) bemerkt. Da bei ersterem die Formensprache von Kunstwerk und Kirchenraum sehr ähnlich war, hatte man das Gefühl, als ob der Kuppelraum von St. Elisabeth in Nürnberg und das Ellipsoid schon lange auf einander gewartet hätten. Diese Harmonie zwischen Körper und Raum war im Münster von Rottweil weit weniger ausgeprägt. Dafür gab es mit den großen starkfarbigen Glasfenstern, dem gotischen Chor und dem Kreuz von Veit Stoß genügend neue Bezüge, die in Nürnberg nicht vorhanden waren.
Daß ein elliptischer Körper, mittig in eine dem Pantheon ähnliche Kuppel gehängt, auf den ersten Blick harmonischer wirkt, als in einem gotischen Chor, ist selbstverständlich. Im ersten Fall ist er bei sich zu Hause, im zweiten ist er erst einmal in der Fremde. Aber genau das interessiert mich daran: zu sehen, wie sich das Kunstobjekt dort benimmt, wo es nicht am eigenen Tisch sitzt.

RAUMSTATION I (PIEROS GEHEIMNIS, 2006) war als einzelnes, eigenständiges Kunstwerk gedacht. Das Objekt SCHWEBENDES BLAU 1/2/4 wurde zuerst in etwa 40 Metern Höhe in der Kuppel von St. Elisabeth in Nürnberg verankert und dann in der Osternacht auf 3 Meter Höhe über den zentralen Altar herabgelassen. Schon bei der vorausgegangenen Simulation erinnerte mich die Situation an das Montefeltro - Altarbild von Piero della Francesca in der Brera in Mailand. In diesem Bild hängt über der Madonna mit dem Kind ein Ei an einem dünnen Faden von einer muschelförmigen Architektur in der Apsis herab. Um auf diesen versteckten Bezug hinzuweisen, nannte ich diese Inszenierung “PIEROS GEHEIMNIS”. Da die obere Außenform des Ellipsoiden fast deckungsgleich mit der Innenform der Kuppel war, passten Körper und Raum perfekt zusammen und das strahlend blaue Kunstobjekt konnte, mit der Kuppel als Resonanzkörper, eine ungeheuere Strahlkraft entfalten.

RAUMSTATION II (ROTTWEILER BLAU, 2007) wurde ein Tag nach der KREUZERSCHEINUNG im Münster von Rottweil inszeniert. Dies ist der Titel einer 6 m hohen und 4,5 m breiten bemalten Leinwand, die am Karfreitag als Kreuzverhüllung vor das großen Kreuz von Veit Stoß gehängt wurde und es in doppelter Größe als blaue Lichterscheinung auf der Leinwand neu entstehen ließ (ähnlich einem Nachbild auf der Netzhaut des Auges). Diese frei hängende Leinwand wurde am Abend abgenommen und am Ostersamstag durch das Objekt SCHWEBENDES BLAU 1/2/4 ersetzt.
Am Ostersonntag wurde dann das Kunstobjekt wieder zum Kultobjekt und spielte in der Osterliturgie die gleiche Rolle wie ein Jahr zuvor in Nürnberg. Gegenüber der anderen räumlichen Umgebung benahm sich der Körper jedoch völlig anders. Gegenüber Nürnberg veränderte er zwar nicht die Form, aber um so mehr seine Wirkung.
Das Objekt hing hier über dem Kreuz von Veit Stoß und vor den starkfarbigen Glasfenstern. Es nahm zu dem gotischen Raum und den großen goldenen Altären eine ganz andere Beziehung auf, als zu dem klassisch anmutenden Kuppelraum in Nürnberg.
Hier in Rottweil bemerkte ich, daß sich aus diesen beiden Arbeiten eine Versuchsreihe entwickeln könnte. Es war mir zwar bewußt, daß die Serie erst bei drei beginnen würde, aber auf die dritte Station brauchte ich nicht lange zu warten.

In der RAUMSTATION III ( BLAU IN KIRCHZARTEN, 2007) war eine Konstellation zwischen Kirche und Kunsthalle gegeben. Der Kunstverein Kirchzarten nutzt eine kleine, um 1900 gebaute Kirche als Ausstellungsraum. Alle Wände sind rein Weiß, es gibt professionelle Lichtschienen und unsakrale Heizkörper. Trotzdem entsteht durch den zwar kleinen und schmucklosen, aber gut proportionierten Raum, der Apsis und dem wie im Raum schwebenden runden Fenster ein feiner und eher intimer Klang, den die imposanten Kirchenräume nicht haben. Verblüffend war, dass meine Installation den umgewidmeten Raum deutlich sakraler wirken lies, ihn also wieder zu dem machte, was er vorher war.

Die RAUMSTATION IV (WAHNBLAU, 2009) war erstmals kein Kirchenraum. Wobei ich den zentralen Oberlichtsaal im Haus Wahnfried mit seiner umlaufenden Empore als semi-sakralen Raum bezeichnen würde.
Die emotional aufgeladene rote Samtbespannung der Wände, die Statuen, die aus dem Konzertraum herüberklingende Musik Richard Wagners bildeten den absoluten Gegensatz zu dem tiefblauen Ellipsoid, das mit seiner exakten und technoid wirkenden Rasterstruktur aus einer anderen Welt zu kommen scheint. Beide sind Symbole ihrer jeweiligen Entstehungszeit. Und obwohl der Raum das frühe neunzehnte und das Kunstobjekt das beginnende einundzwanzigste Jahrhundert repräsentiert und somit verschiedene Sprachen sprechen, hatten sie sich doch einiges zu sagen. Der Dialog war hochinteressant und ausgesprochen spannend. Sie haben sogar öfter zusammen gesungen.

RAUMSTATION V ( MARIENBLAU, 2010) wurde zur Dreihundert-Jahr-Feier des Klosters Maria Hilf in Freystadt realisiert. Die Wallfahrtskirche ist ein beeindruckender Zentralbau, der um 1700 errichtet und 1710 geweiht wurde. An der künstlerischen Innenausstattung  war neben den Italienern Viscardi und Appiani auch Georg Asam beteiligt. Dies brachte eine weitere, neue Raumkonstellation in die Versuchsanordnung ein. Der barocke Farb- und Raumklang unterscheidet sich völlig von den vorausgegangenen Stationen.
Das Kunstobjekt schwebt in etwa sechs Meter Höhe über dem Altar und der schönen Marienfigur. Diese Himmelfahrt Mariens, umgeben von neun Engeln, ist die bildhauerische Komposition von Hans Osel aus dem Jahr 1957. Sie spielt bei dieser RAUMSTATION eine wichtige Rolle, da sie eines der selten Beispiele für eine Figurengruppe aus den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ist, die ich künstlerisch überzeugend und noch dazu richtig schön finde. Sie kommt mit 50 Jahren Abstand dem Kunstobjekt SCHWEBENDES BLAU 1/2/4 zeitlich am nächsten. Seiner Entstehungszeit entsprechend hat der Kirchenraum einen lichten, heiter wirkenden Farbklang. Gold, Orange und Ocker sind die vorherrschenden Farben des Stucks. Damit ergibt sich mit dem tiefdunklen Ultramarinblau des Kunstobjektes der kulturgeschichtlich bedeutendste Farbklang überhaupt, „Gold – Ultramarin“, der Farbklang der Kaiser und Könige (die von Gott gesandten). Neben diesem komplementären Klang stellt sich auch hier wieder ein Bezug zu dem Bild von Piero della Francesca ein. Das Objekt wurde bewußt so gehängt, dass es genau über dem Haupt der in den Himmel schwebenden Maria hängt.

RAUMSTATION VI (SCHWEBENDES BLAU in St. Ursula, 2010) wird zum Ökumenischen Kirchentag in München realisiert werden. St. Ursula in Schwabing ist ein Glücksfall für das Kunstobjekt. Es kommt in diesen Kirchenraum nicht zu Besuch, sondern zu sich nach Hause.
Die Kirche wurde 1894–97 von August Thiersch als Modellbau für seine Proportionstheorien in der Architektur entworfen und gebaut. Er wollte mit diesem Kirchenbau die abstrakten Begriffe Harmonie und Schönheit zu realer Architektur werden lassen. Vielleicht ist das auch der Grund für das verblüffte Erstaunen, das einem befällt, wenn man St. Ursula zum ersten Mal sieht. Man hat das Gefühl, an einer Zeitreise teilzunehmen und nach Florenz in die Zeit der Renaissance versetzt zu sein.
Das Kunstobjekt SCHWEBENDES BLAU 1/2/4 kommt also in eine Situation, die dem  Altarbild von Piero della Francesca noch näher ist, als sie das bei der RAUMSTATION I (PIEROS GEHEIMNIS, 2006, der ersten Installation in dieser Reihe) gewesen war.. Ich vermute, daß die mathematischen und kompositionellen Bezüge des Ellipsoids, die ebenfalls auf Harmonie und Schönheit abzielen, Herrn Thiersch sehr gefallen hätten. Obwohl zwischen dem Kirchenraum und dem darin schwebendem blauen Kunstobjekt reale 113 und gefühlte 550 Jahre liegen, wird es ein harmonisches Familientreffen werden. Der Raum und der Körper werden sich lieben.
Das blaue Ellipsoid wird direkt über den zentralen Altar, dem sowohl mathematischen als auch emotionalen Mittelpunkt der Kirche, installiert werden. Es wird dort in etwa sechs Meter Höhe schweben und somit zum Kraftzentrum des gesamten Kirchenraumes werden.

Über die kultischen Funktion, die das Kunstobjekt im kirchlichen Raum übernehmen kann, bin ich jedes Mal aufs neue erstaunt, möchte mich hier jedoch dazu nicht äußern, da ich mich auf diesem Gebiet nicht kompetent genug fühle. Auch sind bei diesen Vorgängen Worte nur ein schwacher Abglanz des wirklichen Erlebens.
Wichtige Aspekte hierzu werden in dem Text „Kunst und Kult“ von Prof. Dr. Christian Demand angesprochen. Dieser Aufsatz bezieht sich zwar auf die Nürnberger Installation, kann aber auch für jede andere RAUMSTATION, selbst für WAHNBLAU, gelten.

Lauf, im April 2010


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