TEXTE
Texte von Reuter
Zu meinen Bildern (1971)
Documenta-Raumobjekt (1977)
Zum Studium der Kunst (1990)
Zum Quadrat (1990)
Licht (1994)
Bilder im Museum (1995)
Von Hölderlin zu
Malewitsch (2004)
KAISERBLAU (2010)
Weitere Texte
Trompe l’oeil (2012)
Erscheinung in
Sigmaringen (2008)
Gebet und Raum (2003)
Raumstationen I - VI (2010)
Bilder im Museum. Ein schönes Leben oder ein langer Tod?


Ich liebe die altmodisch traditionellen Museen, die ruhigen Aufenthaltsorte der Bilder. Hier kann man ihnen begegnen, wie wohl in früheren Zeiten den anderen Gästen in den Grand Hotels. Man sah sich in den Hallen und Gängen in flüsternder Atmosphäre, interessiert, fasziniert, distanziert. Man war unter Gleichgesinnten.

Ich hasse die sich anbiedernden Bilder-Konsum und Erlebnis-Gastronomien, zu denen manche Museen inzwischen verkommen sind. Hier glaubt man Bilder und Betrachter seien unselbständige, hilflose Wesen. Folglich wird inszeniert, aufgarniert und ruiniert. Leider wird der Typus Museum als ruhiger Tempel der Besinnung ähnlich verschwinden, wie der Typus Grand Hotel inzwischen verschwunden ist.

Die Gründe für beide Vorgänge sind sicher vielschichtig und teilweise auch unterschiedlich. Einige Gründe sind jedoch erstaunlich ähnlich. Da wäre z. B. die Zeit, die heutzutage offensichtlich keiner mehr hat. Zum Mangel an Zeit gesellt sich ein Mangel an Haltung. Ohne Stil und ohne Haltung war man aber weder ein guter Gast im Grand Hotel noch ist man ein guter Besucher im Museum. Man ist nämlich unfähig, das zu schätzen und zu genießen, was einem geboten wird.

Genauso wie die Mehrheit der heutigen Gäste nicht mehr begreift, welch wertvolles und fast unbezahlbares Gut Ruhe und Schönheit, sowie diskreter und lautloser Service darstellen, wird in Zukunft bei der Mehrheit der Museumsbesucher eine wunderschöne Sammlung, traut vereint in bezaubernden Sälen, keinen Wert an sich mehr darstellen. Sie werden dafür nur noch ein müdes Lächeln übrig haben. Man wird also in Zukunft auch diese Klientel mit Aktivitäten ködern müssen, die im kulturellen Bereich den Hotelattraktionen entsprechen, als da wären: Whirlpool, Sauna, Solarium, sowie Ponyreiten, Grill- und Heimatabende.

In der Begegnung mit guten Bildern kann eine plötzliche, aber auch eine langsam wachsende Liebe, wie zwischen zwei Menschen, entstehen. Hier wie dort wird diese Empfindung durch Zweisamkeit gefördert und durch die in der Masse entstehende antiindividuelle Gruppendynamik gestört, wenn nicht gar verhindert.

Ich glaube nicht, daß unsere immer beliebteren Ausstellungsknüller der Begegnung des Individuums Mensch mit dem Individuum Bild dienlich sind. Durch Massenbesuch und schlaglichthafte Medienbegleitung wird meistens nur das Phänomen eines Künstlernamens oder das einer Stilrichtung vorgeführt. Diese Ausstellungen können auch zwangsläufig mit eher äußerlichen Daten nur holzschnitthaft vermittelt werden. Der ernsthafte Dialog des Betrachters mit dem einzelnen Bild, seine Annäherung an und sein Eindringen in es, bleiben durch die ‘erfolgreichen’ Umstände, Massenbesuch, Gruppenführung, Warteschlangen und die damit verbundene äußere und innere Unruhe auf der Strecke.

Philosophisch gesehen erleben wir derzeit die Verdrängung der Anschauung durch den Begriff. Hierzu ein Beispiel: Die Ausstellung „Picassos Welt der Kinder“ ist an sich eine sehr gute Ausstellung mit ebensolchen Bildern. Trotzdem bin ich sicher, daß sich für fast alle Besucher (erstaunlich viele Frauengruppen!) der Name bzw. das Phänomen Picasso, verbunden mit all den sozial bedingten Assoziationen, die der Titel vor allem bei Müttern und Vätern hervorruft, wie eine getönte Glasscheibe vor jedes einzelne Bild legt, es einfärbt und somit nivelliert. Das Bild wird zur Illustration des Ausstellungstitels.

Sollte derzeit ein Museumsdirektor noch stur und unbeugsam an dieser eingangs beschriebenen, geradezu märchenhaften Beziehung zwischen Betrachter und Bild festhalten wollen, so naht unweigerlich auch für ihn die Pensionierung. Spätestens dann werden die ‘verantwortlichen’ Politiker dem Nachfolger klar machen, was eine Einschaltquote im Museum bedeutet und daß endlich einmal Leben in die verstaubte Bude kommen muß.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Ich rede hier keiner verbiestert asketischen Haltung das Wort, auch keinem Purismus, eher schon einer elitären Genußsucht. Elitär deshalb, da ich glaube, daß zu wirklichem Genuß auch Stil und Haltung gehören.

Hier schließt sich der Kreis. Ein gutes Bild hat sowohl Stil als auch Haltung. Man sollte es also auch dementsprechend betrachten und behandeln. Es ist ein Wesen erster Klasse. Ständige Reisen und populistische Vermarktung sollten ihm nicht zugemutet werden. Doch was hilft das Jammern. Der Weg ist vorgezeichnet. Die äußerst erfolgreiche Ausstellung heute zwingt zur noch erfolgreicheren morgen.

Ich würde den Bildern ein schönes langes Leben in vertrauter Umgebung an ihren angestammten Plätzen wünschen. Ich fürchte aber, daß wir immer lebendigere Museen mit immer toteren Bildern an den Wänden bekommen werden.

Lauf, im November 1995


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