Texte von Reuter
Zum Studium der Kunst (1990)
Zum Studium der Kunst
Da es keine allgemeingültigen Wahrheiten oder Regeln in der Kunst gibt, sondern höchstens gewisse Übereinkünfte, die auf vielen als richtig erachteten individuellen Lösungen in der Geschichte der Kunst beruhen und sich noch dazu im Laufe der Jahre ständig ändern, kommt für mich eine Meisterlehre im tradierten Sinne nicht mehr in Frage, obwohl sie sicher die einfachste Lösung wäre. (Frei nach dem Motto: „Ich mal euch vor, ihr malt mir nach!“ Oder wie ein berühmter Kollege sagte: „Jeder muß durch mich hindurch!“).
Selbst eine vom Professor angebotene, eher handwerklich ausgerichtete Ausbildung in der Technik der Malerei hat ihre Tücken. Denn ähnlich einem Bodybuilder, dessen geistige Fähigkeiten nicht seiner aufgebauten Muskelmasse entsprechen, ist auch ein Künstler vorstellbar, dessen geistige Fähigkeiten in der Malerei nicht annähernd mit seinen technischen mithalten können und ihn damit dauernd in die Gefahr bringen, sich mit einer scheinbar brillanten Oberfläche zu begnügen.
Da sich Inhalt und Form gegenseitig bedingen und beeinflussen, sollten sie beide von optimaler Qualität sein. Wenn dies nicht erreicht wurde, empfinde ich einen sinnvollen Inhalt ohne perfekte Form für eine angenehmere Vorstellung als eine perfekte Form mit nichtigem Inhalt. Da es aber sowohl für den inneren Gehalt als auch für die äußere Form und die Herstellungsweise eines Bildes unendlich viele Möglichkeiten gibt, kann am Anfang eines Studiums der Malerei keine absolute Lehre stehen, die es zu lehren bzw. zu erlernen gilt, sondern nur die Aussicht auf einen mühe- und lustvollen Weg des Suchens und Experimentierens, an dessen Ende dann vielleicht die Fähigkeit steht, den gefundenen individuellen Standpunkt in Beziehung zur Umwelt optisch entschieden zu definieren.
Auf diesem, seinem individuellen Weg muß der Student alles selbst finden bzw. erfinden, um es letztlich begreifen zu können. Die Aufgabe des Professors liegt darin, sein (hoffentlich!) großes Wissen und seine Erfahrung zu nutzen, um in die verschiedensten Richtungen, in die die Studierenden tendieren, weiterzudenken und ihnen damit die richtigen Angebote machen bzw. Anregungen geben zu können. Hierbei muß die eigene Position deutlich gemacht werden, jedoch nicht als Beispiel einer Methode, Kunst herzustellen, sondern als Beispiel einer Haltung zur Kunst.
In meiner Klasse werden die Studierenden also in eine grenzenlose Freiheit geworfen, die für die einen existenzbedrohendes Vakuum, für die anderen jedoch chancenreiches Experimentierfeld sein kann. Auf jeden Fall gilt es, die Freiheit mit einer eigenständigen und eigenverantwortlichen Leistung auszufüllen und nicht auf eventuelle Anforderungen und Aufgaben „richtig“ oder „falsch“ zu reagieren. Das Lehrkonzept ist demnach: jeden Studierenden mit dieser unendlichen Fülle von Möglichkeiten zu konfrontieren, ihm bewußt jegliche Anlehnungspunkte und bequeme Lösungsmöglichkeiten zu entziehen und ihm so eine starke, eigenständige Position zu ermöglichen. Dies als Voraussetzung für – im wahrsten Sinne des Wortes – „eigenartige“ oder gar „einzigartige“ Kunstäußerungen, die sich im Übrigen nicht nur auf die Malerei oder Bildhauerei, sondern auf fast alle Gebiete des Lebens erstrecken können.
Nürnberg, im Juni 1990