Texte von Reuter
Documenta-Raumobjekt
Die Arbeit besteht aus einem gebogenen Raum, der durch ein Bild abgeschlossen wird. Den Übergang bildet eine teils reale, teils gemalte Treppe. Wie häufig, wenn zwei verschiedene Dinge eine Verbindung eingehen, gibt jedes einen Teil seiner individuellen Eigenschaften auf. Der Raum wird durch den Glanz und die starke Spiegelung der Fliesen entmaterialisiert. Er erfährt durch das Bild eine Fortführung, die der Realität nicht entspricht und ihn dadurch verändert. Das Bild erhält durch den direkten Bezug auf den konkreten Raum einen Realitätscharakter, den es als Tafelbild allein nie erreicht hätte. Der Bereich, in dem Bild und Raum zusammentreffen, ist von eigenartiger Ambivalenz. Das zugrunde liegende Prinzip hat eine lange kunstgeschichtliche Tradition. Seit der „Erfindung“ der Zentralperspektive hat der Übergang der Realität in die Illusion viele Maler fasziniert, wobei die Raumtäuschung manchmal als eines von mehreren Mitteln zur Erreichung eines übergeordneten Bildzieles eingesetzt wurde, manchmal jedoch auch als reiner Selbstzweck zum Beweis des artistischen Könnens.
Im vorliegenden Fall dient der Raum dazu, dem Betrachter eine realere, beinah körperliche Auseinandersetzung mit dem Bild zu ermöglichen. Da er sich in einem Raum befindet, der sich auf der Leinwand fortsetzt, wird ihm der Übergang aus der Realität in den Bildraum wesentlich erleichtert. Er befindet sich in einem ambivalenten System. Das Blau kann er, wie schon im realen Raum, als beunruhigend kalt oder angenehm erfrischend empfinden. Der Raster der Fliesen und die gleichmäßigen Farbübergänge erscheinen ihm vielleicht als eine beängstigend unmenschliche Perfektion oder aber als Sicherheit vermittelnde Verbindung von kompositioneller Klarheit und handwerklichem Können. Bei dem nach der Treppe sich öffnenden Raum kann die Einschätzung schwanken zwischen einem klinisch anmutenden Alptraum, der sich in gleißendem Licht ins Ungewisse verliert, und einer angenehm großen Halle, die sich befreiend nach oben zum Licht hin öffnet.
Auf jeden Fall hat das Bild gegenüber der Realität den Vorzug, daß es vom Betrachter nie ganz ergründet werden kann. Während für den eintretenden Besucher das gemalte Bild noch hinter der Biegung des Raumes versteckt liegt und er daher über dessen weiteren Verlauf im unklaren ist, kann er sich leicht durch einfaches Weitergehen Klarheit verschaffen. Das Ende des realen Raumes ist das Bild. Die Fortsetzung bzw. das Ende des Raumes im Bild wird für den Betrachter ungeklärt bleiben müssen. Für ihn ist es ein Rätsel, für das er jedoch jederzeit seine individuelle Lösung erfinden kann.
Januar 1977
Documenta-Raumobjekt (1977)